Johannes Schriek: Hallo Prof. Moritz, stellen Sie sich doch bitte einmal kurz vor.
Steffen Moritz: Mein Name ist Steffen Moritz, ich bin Professor für klinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Ich arbeite dort in der Psychiatrie im Bereich Neuropsychologische Diagnostik und Entwicklung psychotherapeutischer Verfahren.
Bitte erklären Sie was Ihre Arbeit ausmacht, was untersuchen, woran forschen Sie und Ihr Team?
Ich betreibe Grundlagen- und Therapieforschung, v.a. zu Depression, Schizophrenie und Zwangsstörungen. Auf Versorgungsseite bin ich zuständig für neuropsychologische Diagnostik, d.h. wir untersuchen, ob Patienten an Demenz oder anderen neurokognitiven Einschränkungen wie Aufmerksamkeitsdefiziten im Rahmen von z.B. ADS leiden.
Was erhoffen Sie sich von ihrer Arbeit?
Wir haben uns spezialisiert auf sog. metakognitive Defizite, d.h. Störungen des Denkens über das Denken. Viele psychische Erkrankungen scheinen darin zu wurzeln, dass Betroffene sich nicht richtig einschätzen können. So unterschätzen Depressive häufig ihre wahre Leistungsfähigkeit, während Menschen mit Psychose sich in ihren Entscheidungen oft zu sicher sind. Diese Denkverzerrungen wollen wir therapeutisch abschwächen und dadurch die Befindlichkeit bessern. Dass dies erfolgreich ist, zeigen mittlerweile auch sog. Meta-Analysen, die eine Vielzahl von Einzelstudien bündeln.
Am UKE wurde eine VR-Expositionstherapie für Kontroll- und Waschzwänge entwickelt, wie funktioniert diese?
Entwickelt hat das ein Team um meine Mitarbeiterinnen Frau Dr. Bücker und Frau M.Sc. Franziska Miegel. Die Probanden bekommen eine VR-Brille aufgesetzt und bewegen sich durch eine virtuelle Umgebung, die zwangsrelevante angst- bzw. ekelauslösende Objekte enthält. In diesen Umgebungen werden die Probanden therapeutisch angeleitet sich mit den angst- und ekelbesetzten Objekten zu konfrontieren, ohne dabei Zwangshandlungen auszuführen. Ziel dieser Exposition (Konfrontation) ist es, neue Lernerfahrungen zu machen, v.a. dass die negativen Gefühle meist von selbst nachlassen. Oft stellen sich auch neue Emotionen ein, wie Neugier, was negative Gefühle überschreibt bzw. reduziert.
Kann die VR-Therapie überall angewendet/installiert werden, auch zuhause?
Aktuell sind der technische Aufwand und die Apparatur noch sehr aufwändig und werden zunächst nur zu Forschungszwecken verwendet. Das soll sich aber bald ändern, sodass wir in absehbarer Zeit sicher Möglichkeiten haben, die Software auch anderen Kliniken oder ambulanten Therapeuten bereitzustellen. Wir müssen allerdings noch die Daten in Bezug auf die Wirksamkeit abwarten.
Wie kann ich an der VR-Therapie teilnehmen?
Wir haben Aufrufe gestartet, zwischenzeitlich auch über Google Anzeigen, Flyer an Kollegen, Versorgungszentren und Klinken verschickt und suchen Menschen mit einer Zwangsstörung über Zeitungsannoncen. Nach einem kurzen Telefonscreening bezüglich Eignung erfolgt eine Eingangsuntersuchung und dann kann es mit der VR-Therapie losgehen.
Wie werden die Ergebnisse der Therapie gemessen?
Hier gibt es Standardverfahren und Standarddesigns. Patienten müssen an einer Eingangsdiagnostik teilnehmen, nachdem sie eine informierte Zustimmung zur Studienteilnahme gegeben haben. Im Anschluss werden sie zufällig einer von zwei Gruppen zugeordnet: eine Gruppe erhält die VR-Therapie, die andere Gruppe erhält keine VR-Therapie, darf aber andere Behandlungen nutzen. Dann erfolgt über einen Zeitraum von 6 Wochen die Intervention und anschließend wird eine weitere Diagnostik durchgeführt. Wichtig ist: der Untersucher bzw. Diagnostiker weiß nicht, ob der Patient nun die Therapie bekommen hat oder der Kontrollgruppe zugewiesen wurde. Dadurch sollen Verfälschungen wie Erwartungseffekte minimiert werden. Mit sog. gemischten Varianzanalysen wird am Ende untersucht, ob der Unterschied zwischen der Interventions- und der Kontrollgruppe signifikant wurde, also nicht allein auf Zufall beruht. Typische Erfolgsmasse sind der Schweregrad der Zwangsstörung.
Hat man schon Erfolge damit erzielen können?
Ja, aber bislang nur nach klinischem Eindruck. Aus Gründen der guten wissenschaftlichen Praxis dürfen keine Zwischenauswertungen vorgenommen werden. Daher können wir noch keine abschließenden Aussagen zur Wirksamkeit machen. Aktuell zeichnet sich nach unseren klinischen Erfahrungen allerdings ab, dass die Maßnahme v.a. bei Waschzwang gepaart mit Ekel gut funktioniert.
Kann die VR-Therapie einen physischen Therapeut*in ersetzen?
Nein, das soll sie auch gar nicht. Am wirksamsten sind Therapeuten-gestützte Expositionsbehandlungen, das wird weiter der Standard bleiben. Aber dort wo Expositionen in vivo- also in der realen Umgebung – nicht möglich sind oder schwer realisierbar, ist VR eine gute Alternative. VR-Umgebungen können einfacher kontrolliert und individualisiert werden und sind außerdem weniger zeitaufwendig als reale Expositionen. Außerdem ist es leider so, dass viele Therapeuten reale Exposition nicht durchführen, teilweise wegen Problemen der Praxisorganisation oder aus Sorge, dass Patienten zusammenbrechen oder zu den mehrstündigen Terminen gar nicht erst kommen. Das bereitet dann Probleme mit der Abrechnung. Auch bestehen Sorgen bezüglich des Versicherungsschutzes außerhalb der eigenen Behandlungsräume. VR-Expositionen erlauben hier auf der einen Seite eine bessere Kontrollierbarkeit der Therapie und die Therapeuten müssen das Behandlungszimmer nicht verlassen.
Für wen ist die Therapie geeignet?
Die im Rahmen unserer Studie untersuchte Expositionstherapie in VR ist für Menschen mit Zwangserkrankungen geeignet, die an Wasch- und/oder Kontrollzwänge mit vorherrschenden Zwangshandlungen leiden. Stationäre Patienten können an unserer Studie erst nach Entlassung teilnehmen.