Johannes Schriek: Hallo Herr Hillebrand, stellen Sie sich doch bitte einmal kurz vor.
Thomas Hillebrand: Mein Name ist Thomas Hillebrand, ich habe in Münster Psychologie studiert und bin auch nach meinem Diplom-Abschluss 1990 in Münster geblieben. Nach einigen Jahren in einer Klinik bin ich seit 1995 hier in eigener Praxis als Psychologischer Psychotherapeut tätig. Ich bin verheiratet und habe zwei erwachsene Söhne.
Bitte erklären Sie, was Ihre Arbeit ausmacht.
Als Psychotherapeut behandle ich zahlreiche psychische Erkrankungen. Die Patienten kommen regelmäßig in die Praxis und wir haben Zeit, über die Probleme zu sprechen und Lösungen zu erarbeiten. Von der therapeutischen Ausrichtung her bin ich als Verhaltenstherapeut tätig, bin aber offen für ergänzende hilfreiche Methoden. 30-40% meiner Patienten sind seit Jahren Zwangspatienten, so dass ich fast täglich Kontakt mit Menschen habe, die unter einer Zwangsstörung leiden. Neben meiner Tätigkeit in der Praxis bin ich seit vielen Jahren in der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen, DGZ e.v. engagiert und seit 2008 Mitglied im Vorstand. Hier liegt mir u.a. das Thema Fortbildung für Therapeuten sehr am Herzen.
Sie haben sich auf Zwangserkrankungen spezialisiert, warum?
In meiner ersten Klinikstelle Anfang der 90iger Jahre haben wir zusätzlich auch ambulante Therapien durchgeführt. Die Zwangsstörung fand ich schon damals therapeutisch sehr herausfordernd und respekteinflößend. Als meine erste Zwangspatientin, die aufgrund ihres Waschzwanges völlig aufgerissene Hände hatte, verzweifelt vor mir saß wurde mir rasch klar: nur mit Reden kommen wir hier nicht weiter. Ich habe dann noch einmal in die einschlägige Literatur geschaut und wurde in meinem Entschluss bestärkt, der Patientin eine Expositionsbehandlung anzubieten. Um der Patientin eine wirklich gute Unterstützung geben zu können, habe ich diese Behandlung gleich auf drei Tage in einer Woche mit jeweils drei Stunden angelegt. Ich habe die Patientin zu Hause aufgesucht, wir haben Kontaminationsübungen durchgeführt, es gab intensive Gespräche zu den Themen, die sich um den Zwang drehten. Schon am dritten Behandlungstag konnte sie deutliche Verbesserungen feststellen. So konnte sie den Gummibaum, der für sie am ersten Tag noch „giftig“ war, bereits ohne Probleme wieder anfassen. Sie hat dann sehr motiviert alleine Expositionsübungen weiter durchgeführt. Ich habe sie zwei Jahre später angerufen, sie war noch immer zwangsfrei. Dieser Erfolg war es, der mich dazu brachte, mich intensiver mit der Zwangsstörung zu befassen, die für die Betroffenen oft mit so großen Belastungen und Leiden einhergeht. Damals entstand auch der Kontakt mit der Deutschen Gesellschaft Zwangserkrankungen DGZ e.V., die sich gerade gegründet hatte. Für ihre Therapeutenliste suchten sie Therapeuten, die bereit waren Zwangspatienten aus der Region zu behandeln. So wuchs die Anzahl meiner Patienten stetig. Heute weiß ich, dass dieser erste Erfolg in dieser Weise ein glücklicher Zufall war, denn nicht alle Zwangspatienten profitieren so umfangreich wie meine erste Patientin…
Wodurch können sich Zwangserkrankungen entwickeln?
Ja, wenn man das wüsste. Es gibt natürlich eine ganze Reihe von Theorien und Modellen, die das Entstehen einer Zwangsstörung zu erklären versuchen. Diese erscheinen auch plausibel und befriedigen zumindest das Bedürfnis, eine vorläufige Antwort auf diese Frage geben zu können. Inwieweit sie den tatsächlichen Entstehungsprozess abbilden, ist noch immer Gegenstand der Forschung.
Aber ich möchte gerne unterschiedliche Ansatzpunkte nennen. So gibt es Hinweise auf eine erbliche Komponente. Die Wahrscheinlichkeit, dass eineiige Zwillinge beide eine Zwangsstörung entwickeln ist noch höher als bei anderen psychischen Erkrankungen z.B. schizophrenen Erkrankungen, bei denen man ebenfalls einen bedeutsamen erblichen Einfluss vermutet. Eine weitere Perspektive ist die Betrachtung von Besonderheiten im Gehirnstoffwechsel. Auch hier gibt es immer wieder replizierte, d.h. in mehreren Studien belegte Befunde, dass Zwangspatienten in bestimmten Gehirnregionen Auffälligkeiten aufweisen, die bei Gesunden nicht zu finden sind. Die gute Nachricht möchte ich gleich hinzufügen: diese Auffälligkeiten gehen im Rahmen einer Therapie, sowohl verhaltenstherapeutisch als auch medikamentös, wieder zurück. Ein weiterer ursächlicher Faktor, der immer wieder vermutet wird, ist das Erleben eines schweren Traumas in der Kindheit. Hier ist die Studienlage teilweise uneinheitlich, eine Studie belegt aber deutlich, dass die Häufigkeit schwerer Traumata wie z.B. sexueller Missbrauch bei Zwangspatienten nicht häufiger auftritt als bei Nicht-Zwangspatienten. Das entspricht auch meiner klinischen Erfahrung, es gibt Patienten mit diesen Traumata, aber es ist eine Minderheit. Die Bedeutung von Erziehung wurde ebenfalls immer wieder untersucht. Natürlich fallen bei zahlreichen Patienten eine strenge Erziehung, perfektionistische Ansprüche der Eltern, oder auch häufig eine erhöhte Ängstlichkeit bei einem Elternteil ins Auge, aber es gibt auch viele Patienten die dies nicht erlebt haben und trotzdem eine Zwangsstörung aufweisen. Der Autor eines Therapiemanuals fasste den Einfluss von Erziehung wie folgt zusammen: „Glücklicherweise führt kein Erziehungsstil notwendigerweise zur Entstehung einer Zwangserkrankung. Ebenso wenig lässt sich jedoch der Ausbruch einer Zwangsstörung durch bestimmte Erziehungspraktiken gänzlich vermeiden.“
Zwangspatienten weisen allerdings in der Tat Gemeinsamkeiten auf: allen voran eine gewisse Grund-ängstlichkeit und eine Sicht auf die Welt als zunächst einmal permanent bedrohlich. Ich sage häufig, das Angstzentrum im Gehirn - die Amygdala - ist ständig aktiv und vermittelt dem Betroffenen ein Gefühl von dauernder Bedrohung. Wir finden eine Überschätzung von Gefahren, wir erleben häufig ein überhöhtes Verantwortungsempfinden. Besonders typisch für Zwangspatienten ist ein zu ausgeprägtes Ernst-nehmen von Gedanken. Es fällt ihnen extrem schwer, sich von negativen Gedanken zu distanzieren. Es folgt der Versuch, diese Gedanken zu unterdrücken, was das Gegenteil bewirkt und die Angst ansteigen lässt. Dies trifft besonders für Menschen mit aggressiven, sexuellen oder religiösen Zwangsgedanken zu. Bei Menschen mit Kontroll- und Ordnungszwängen finden wir ein Phänomen, das man Unvollständigkeitsgefühl nennt. Eine für Nicht-Betroffene schwer nachvollziehbare Empfindung, nämlich ein Wissen nicht „spüren“ zu können und deshalb völlig hilflos zu sein. Ein Beispiel: ein Zwangspatient kontrolliert den Herd und obwohl er bereits 10 mal alle Schalter kontrolliert hat, sich selbst dabei laut sagt: „Schalter 1: Aus, Schalter 2: Aus, Schalter 3: Aus“ und zu guter Letzt noch mit der Hand die Kälte der Herdplatte prüft, kann dieses „Wissen“, dass der Herd ausgeschaltet ist, nicht spüren. Patienten sagen: „Es kommt im Kopf nicht an“ und kontrollieren weiter und weiter. Bei Menschen mit Waschzwängen schließlich finden wir eine ausgeprägte Befürchtung mit bedrohlichen Substanzen in Berührung zu kommen. Charakteristisch ist hier ein Denken, das sich dadurch auszeichnet, dass eine Substanz (Keime, Schmutz, Alte Gegenstände, HIV, Prionen, Fuchsbandwurm, Asbest…; diese Reihe lässt sich vielfältig weiterführen) auch über viele Stationen „verdünnt“ noch immer hochgradig gefährlich ist. Dies macht die innere Dramatik aus, denn im schlimmsten Fall ist jeder Gegenstand mit der befürchten Substanz „verseucht“ und der Betroffene darf eigentlich gar nichts mehr berühren oder muss sich im Anschluss exzessiv die Hände waschen
Ich glaube, wenn wir besser erklären können, warum diese Charakteristika bei Zwangspatienten in dieser Form auftreten, kommen wir dem Verständnis der Entstehung von Zwangsstörungen näher.
Was sind Symptome von Zwangsstörungen und wie erkenne ich, dass es Zwänge sind?
Mit den vorhin bereits kurz erwähnten Formen der Zwangsstörung, nämlich den Waschzwängen, den Kontrollzwängen und den aggressiven, sexuellen oder religiösen Zwangsgedanken haben wir schon einen Großteil der Zwangssymptome erfasst. Weitere Symptome umfassen ein zwanghaftes Einhalten von Ordnung und Symmetrie, zwanghaftes Zählen, das Wiederholen von Handlungen, ein übertriebener „Glaube“ an Unglücks- oder Glückszahlen, der Glaube, dass Denken Handeln und Ereignisse direkt beeinflussen können, das sogenannte „magische Denken“, um nur einige weiter Ausprägungen zu nennen.
Sie merken, es taucht immer wieder der Begriff „zwanghaft“ auf. Die soll verdeutlichen, dass die Betroffenen eine Handlung ausführen oder einen Gedanken erleben, den sie selbst gar nicht haben wollen. Sie sind aber nicht in der Lage, sich dieser Handlung oder dem Auftreten des Gedankens willentlich ohne weiteres zu entziehen. Sie fühlen sich „gezwungen“, diese Handlung auszuführen, auch wenn sie in anderen Lebensbereichen durchaus willensstark sein können. Dieser Umstand ist ein Kriterium, der eine Zwangsstörung erkennen lässt. Dabei ist noch anzumerken, dass diese Gedanken von den Betroffenen trotzdem als eigene Gedanken erlebt werden, in Abgrenzung zu psychotischen Gedanken.
Wo liegt der Unterschied zwischen einer Zwangsstörung und einer Impulskontrollstörung?
Diese Frage passt jetzt gut. Denn ein weiteres Definitionskriterium für die Zwangsstörung lautet, dass „der Gedanke oder die Handlungsausführung nicht an sich angenehm“ sein darf. Bei einer Zwangsstörung dienen Zwangshandlungen dazu, eine große Angst, ein Schuldgefühl, starken Ekel oder auch „nur“ eine sehr hohe Anspannung zu reduzieren. Ein unangenehmer emotionaler Zustand wird also weniger und das lohnt die Ausführung der Zwangshandlung. Bei einer Impulskontrollstörung aber wird die Ausführung einer Handlung wie Haare ausreißen („Trichotillomanie“), sich bis zur Verwundung die Haut aufknibbeln („Skin Picking“), etwas impulsiv kaufen (Pathologisches Kaufen) oder stehlen (Pathologisches Stehlen), im Moment der Ausführung als angenehm erlebt, auch wenn sich kurz danach wieder ein schlechtes Gewissen und ein eher depressiv gefärbter Stimmungszustand einstellt. Also nochmal: wir haben bei der Impulskontrollstörung wie bei der Zwangsstörung den äußerlichen Aspekt einer wiederholt und zwanghaft anmutenden Verhaltenssequenz, die Motive für die Ausführung sind jedoch unterschiedlich.
Wie werden Zwangserkrankungen therapiert?
Als Behandlungsmethode der ersten Wahl wird in den Leitlinien die „Kognitive Verhaltenstherapie mit Exposition“ genannt, da zahlreiche Untersuchungen, die Wirksamkeit dieser Methode immer wieder bestätigt haben. Die Patienten erlernen zunächst die typischen Charakteristika des Zwanges kennen. Anschließend werden verschiedene Methoden eingesetzt, die dem Patienten helfen sollen, einen Zwangsimpuls oder einen Zwangsgedanken frühzeitig zu erkennen, sich von ihm zu distanzieren und die Zwangshandlung im Idealfall nicht auszuführen. Da diese Umsetzung den Betroffenen sehr schwer fällt - sonst kämen sie nicht in die Therapie – besteht ein Kernstück der Behandlung in der therapeutenbegleiteten Exposition. Wichtig ist, dass sich der Patient selbst für dieses Vorgehen entscheidet und mit dem Therapeuten eine Art Bündnis zustande kommt: „Gemeinsam gegen den Zwang!“.
Ziel ist es, die zwangsauslösenden Situationen aufzusuchen, und Kontroll – oder Waschhandlungen zur Beruhigung nicht mehr auszuführen. So wird der Herd nur einmal oder auch keinmal angeschaut, bevor die Wohnung unverzüglich verlassen wird. Oder ein vermeintlich verschmutzter Gegenstand wird berührt und es erfolgt kein anschließendes, wieder beruhigendes Händewaschen. Steigt die Angst zunächst tatsächlich an, so erlebt der Patient, dass mit der Dauer und den Wiederholungen dieser Übungen schließlich die Angst immer geringer wird. Gemeinsam mit dem Therapeuten werden Übungen mit ansteigendem Schwierigkeitsgrad erarbeitet und dann in der realen Lebenssituation, beginnend mit leichten Übungen, durchgeführt und begleitet. Idealerweise wird diese Behandlung als Block von bis zu drei Therapiestunden an mehreren Tagen hintereinander durchgeführt, um die wichtige Lernerfahrung zu ermöglichen, dass sich die Angstreaktion tatsächlich reduziert. Unerlässlich ist es, dass der Patient anschließend die Übungen alleine weiterführt. Dies wird in der Therapie weiter unterstützt, weitere Themen können nun zusätzlich bearbeitet werden.
Schon in ersten Therapiestudien in den 80iger Jahren wurde Expositionen in dieser konzentrierten und kompakten Form durchgeführt. Aktuell belebt eine norwegische Forschergruppe des Psychologischen Instituts in Bergen die Diskussion um die Blockbehandlung. Ihr Behandlungskonzept besteht aus ganztätigen Expositionen an vier Behandlungstagen („The Bergen 4-Day Treatment for OCD“). Mittlerweile wurde bereits 1200 Zwangspatienten behandelt und zeigen sehr ermutigende, auch langfristige Therapieeffekte. Für die ambulante psychotherapeutische Regelversorgung wäre bereits eine Blockbehandlung im Umfang von drei Stunden an drei oder vier Tagen in einer Woche ein großer Gewinn.
In der realen Versorgungssituation wird dies jedoch nur selten durchgeführt. Viele ambulante Therapeuten scheuen den vermeintlich großen Aufwand, den es bedeutet auch einmal den Therapieraum zu verlassen. In einer Befragung, die im letzten Jahr veröffentlicht wurde, gaben 19 % der Therapeuten an, auch an drei Tagen in einer Woche Exposition als Blockbehandlung durchzuführen. In einer Studie aus dem Jahr 2010 waren es nur 6%, die angaben, dies „gelegentlich“ durchzuführen. Sind auch die beiden Studien nicht ganz vergleichbar, so sehe ich doch hoffnungsvoll einen positiven Trend! Es sind übrigens die jungen Therapeuten, die in der aktuellen Befragung signifikant häufiger als ältere diese Methode anwenden. Insgesamt besteht aber weiter dringender Handlungsbedarf, für diese Methode zu werben und Therapeuten mit gezielten Fortbildungen für die Anwendung der Blockexposition zu begeistern. Auch die DGZ e.V. sieht in diesem Engagement eine wichtige Aufgabe.
Können Zwangserkrankungen überhaupt geheilt werden?
Insgesamt muss man einräumen, dass in vielen Fällen die Zwangserkrankung eine chronische Erkrankung ist, die nicht vollständig geheilt werden kann. Aber sehr viele Patienten profitieren von der richtigen Behandlung und können die Belastung durch den Zwang deutlich reduzieren und viel Lebensqualität zurückgewinnen.
Kann ich mich vor einer Zwangserkrankung schützen?
Ich glaube es ist wichtig, so früh wie möglich eine zwangsspezifische Behandlung aufzusuchen, um frühzeitig die „Mechanismen“ des Zwanges zu erkennen und die Fähigkeit aufzubauen und zu stärken, dem Zwang etwas entgegenzusetzen.
Vielen Dank für das Interview!
Gerne und Dank meinerseits.